Neue Gedenkstätte in Wilhelmsdorf erinnert und mahnt
Ein oberschwäbischer Himmel mit kleinen Haufenwolken im Blau spannt sich über Wilhelmsdorf, es ist warm, ein leichter Wind fährt durch das noch junge Laub der Bäume und lässt es glänzen. Welch ein Kontrast zum Thema der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Missbrauch in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in den 1950er– bis 1980er–Jahren, zu der sich fast 100 Menschen einfinden.
Vertreter der Brüdergemeinden Korntal und Wilhelmsdorf, Fachleute und Mitarbeiterinnen der Diakonie, die Bürgermeisterin, Betroffene, Gäste aus der Umgebung, Zeitzeugen — sie alle nehmen teil und Anteil an der Aufarbeitung der Geschichte des Missbrauchs im Hoffmannhaus und im Ferienlager am Lengenweiler See in Wilhelmsdorf.
Am Rande des Saalplatzes steht in einer kleinen Senke neben dem Hoffmannhaus ein neues Mahnmal, noch verhüllt mit einem violetten Tuch. Gerhard Roese, 1962 in Darmstadt geboren, ein Künstler, der selbst als Schüler in den späten 1970er–Jahren an der Odenwaldschule Missbrauch erlebte und dort 1982 Abitur machte, hat im Auftrag der Diakonie Korntal drei Mahnmale in komplettem Aluminiumguss gestaltet.
„Wir müssen uns bei schönsten Wetter einer tieftraurigen Thematik stellen‟
Eine stabil-labile Balance
Die eher stockend vorgebrachte Reflexion über die Dimension des Missbrauchs, die in der „schweren Aufgabe der Lebensbewältigung danach“ liege und im Verlust der drei Grundgefühle eines intakten Menschen — Vertrauen, Respekt und Hoffnung — bestehe, zieht alle, die da zuhören, sofort in ihren Bann, mehr noch als die Erklärungen zur Skulptur. Von unten nach oben zu lesen sind die sieben kantigen Großbuchstaben übereinander und teils bäuchlings in einer stabil–labilen Balance geschichtet, obendraufgleicht das T in geschwungener Schrift ein wenig einer Vogelsilhouette. Es sei in Ordnung, dass da einer „aus der Reihe tanze“, sagt Roese, dem vor allem die goldene Kugel wichtig ist, die hier ungefähr auf Nabelhöhe zwischen dem E und dem S eingeschoben ist: ein allgemein verständliches Zeichen für den inneren Zusammenhalt, ohne den alles auseinander fiele. Das prägt sich ein, ein schlichtes Bild, das jeder versteht.
öffentliche Schuldbekenntnis
Gerhard Haag, Regionalleiter der Diakonie in Wilhelmsdorf und umsichtiger Moderator der Veranstaltung, leitet über zum öffentlich ausgesprochenen Schuldbekenntnis der Diakonie, dessen Hauptpunkte auf einem Plakat zu lesen sind. Drei Vertreter aus Korntal — Klaus Andersen, der an der Aufklärungsarbeit ab 2018 mitarbeitete, Jutta Arndt, seit zwei Jahren Geschäftsführerin der Diakonie Korntal, und Dieter Weißer, Weltlicher Vorsteher des Diakonie–Aufsichtsrats übernehmen diese Aufgabe, die etwas von einer öffentlichen Beichte hat und eine Geste des Vermächtnisses an die Gesellschaft ist. Vom Hofgebäude des Hoffmannhauses her muhen die Kühe, jemand hat die obere Stalltür geöffnet und ein Pferd schaut heraus auf die vorbeiziehenden Menschen, die nun schweigend zum ehemaligen Ferienlager gehen; die lange Schlange passiert die Birkenallee, die zu einem eingefriedeten Wäldchen führt. Für die Einen der Himmel und eine wunderschöne Ferienzeit, für die Anderen die Erfahrung von Angst, Zwang, Gewalt und Missbrauch. Wie ist das vorstellbar in dieser Idylle?
Prügel und Demütigung waren üblich
Es seien ja viele bereits geschädigte Heimkinder gewesen, sagt Jutta Arndt im Gespräch, in der frühen Zeit nach der Gründung 1949 noch viele Waisen oder Kinder aus zerstörten Familien. Und die Erzieherinnen und Erzieher waren noch von einer Zeit geprägt, in der Strafe, Prügel und Demütigung in der Schule und Familie üblich waren. Hier spricht auch Detlev Zander, damals Heimkind in Korntal, bei dem 2014 plötzlich die kindlichen Traumata aufbrachen und den bis dahin stabilen Krankenpfleger aus dem Gleichgewicht warfen. Ihm sei nach der Veröffentlichung seiner Missbrauchsgeschichte keinerlei Respekt widerfahren, sagt er später in seinem Beitrag im Gemeindehaus. Und „trotz allem war’s auch schön“, meint er, dem es heute als Sprecher der Betroffnen durchaus um eine gerechte Beurteilung geht, hier im Ferienlager, nur sollte „kein Kind mit solch einer Hypothek belastet werden“. Auch Bernd Riekert bleibt nah an den Fakten: 15 Jahre lebte er im Hoffmannhaus und erlebte Prügel und sadistische Strafen von Erziehern wie „stundenlanges Stehen ohne Anlehnen“. 1995 kam er als Angestellter zurück und arbeitet seither mit den Jugendlichen, in seinem Fazit halten sich positive und negative Erfahrungen in etwa die Waage.
Aufklärungsarbeit ist noch nicht gerichtlich bestätigt
Weitere Beiträge gab es. Berührende und künstlerische wie der Song „Respekt“ von Christoph Lutz und die Betrachtung einer kleinen Ausstellung mit Werken von Betroffenen, bei denen fast keines ohne Wörter auskommt: auch ein Zeichen dafür, wie wichtig das „Aus–Sprechen“ ist. Und noch mehrere fachliche, ebenfalls beeindruckende Beiträge wie von der Juristin Brigitte Baums–Stammberger zum Stand ihrer langwierigen und noch nicht gerichtlich bestätigten Aufklärungsarbeit mit Betroffenen. Die Komplexität der einzelnen Sachgebiete wurde somit immer deutlicher — es bleibt eine Mammutaufgabe. Am wichtigsten sei, so Jutta Arndt in ihrer Schlussrede, „dass wir alle miteinander dran bleiben“. Ein guter Anfang wurde gemacht, vieles publiziert, Gremien sind gegründet, offen bleibt die Frage nach materieller Entschädigung oder einer Rente für die größtenteils älteren Betroffenen, ein schwieriges Thema, auf das ausweichend geantwortet wird. Hier müsste die kommende Diskussion ansetzen.
Kein Abschluss
Draußen im weichen späten Sonnenlicht zeigt sich das Mahnmal aus Lettern — man fühlt sich an den alten Bleisatz erinnert — von seiner markanten Seite. „Wir waren ohne Hoffnung“ steht darauf. Das Imperfekt klingt wie ein Versprechen: dass die Erinnerung bleibe und die Motivation zur Aufdeckung nicht nachlasse — ein Anfang, kein Abschluss!